Die
Hexe Nihila
von Heide
Rohringer
Schmutziges Gesicht, strubbelige,
in alle Windrichtungen stehen Haare und einen riesiger Hexenbesen
aus Birkenreisig hinter sich herschleifend – das ist Nihila. An
ihrem Aussehen erkennen alle sofort, dass sie eine Hexe ist. Und
obwohl sie, wie alle anderen Hexen auch streng darauf achtet, dass
sie nicht allzu oft nass und dabei womöglich sogar sauber wird,
ist sie doch mit keiner anderen Hexe aus dem Zauberwald zu
vergleichen. Nihila ist nämlich eine vergessliche Hexe.
Aber nicht nur so dass sie vergisst wo
sie ihre Schlüssel hingelegt hat, das wäre nämlich gar nicht
schlimm, da Hexenhäuser ja nicht versperrt werden und Hexen durch
den Rauchfang hinein und hinaus kommen.
Auch nicht in der Weise, dass sie
vergisst in welche Richtung sie gehen muss, um nach Hause oder ins
Hexendorf zu kommen, denn auch das wäre nicht weiter tragisch,
schließlich haben Hexen Zauberbesen, die von alleine nach Hause
finden.
Nihila war in so besonderer Weise
vergesslich, dass kein Zauber helfen konnte. Und diese
Vergesslichkeit wurde mit der Zeit allen lästig.
Es begann damit, dass eines Tages die
Sturmhexe Nihila fragte, ob sie mit ihr Kröten fangen wollte.
Doch bevor sie antworten konnte war die Antwort verschwunden und
Nihila konnte nur noch „ich weiß nicht“ sagen.
„Du musst doch wissen, ob du mitkommen
willst“, rief die Sturmhexe erschrocken. „Ich hab´s halt
vergessen,…..“ schrie Nihila zornig zurück und wunderte sich
warum sie plötzlich so wütend war.
Die Sturmhexe war eine alte Hexe, die
sich in vielerlei Dingen auskannte und wahrscheinlich spürte sie
deshalb sofort, dass sich ein Unheil auszubreiten begann. Und sie
hatte damit leider Recht.
Von diesem Tag an passierte es immer
häufiger, dass Nihila vorgefasste Gedanken verlor und nur mehr
„Hab´s vergessen!“ sagen konnte.
Mit der Zeit bemerkte auch die Oberhexe
mit großer Sorge, was da vor sich ging. Und weil eine Oberhexe,
die sich Sorgen macht, besonders laut und viel schimpfen muss,
rief sie eines Tages Nihila zu sich ließ ihrer Sorge freien Lauf.
„Wie kann man nur so gedankenverloren
sein!“, schrie sie und warf einen Sessel gegen die Wand des
Oberhexenhauses, dass es nur so krachte. „Eine Hexe muss doch
wissen, was sie will!“, donnerte sie weiter und beförderte mit
einer einzigen Armbewegung einen riesigen Stapel ihrer sonst so
sorgsam gehüteten Hexenbücher auf den Boden.
Nihila hatte die Oberhexe noch nie zuvor
so außer sich erlebt und zog sich in eine Ecke des Hexenhauses
zurück.
„Nun, was meinst Du dazu?“ fragte
die Oberhexe schließlich wieder ruhig aber doch ernst und ließ
sich erschöpft auf den Sessel plumpsen, den sie zuvor gegen die
Wand befördert hatte und dem nun ein Bein fehlte.
„Ich weiß nicht“, sagte Nihila
zaghaft und als sie merkte wie die Augenbrauen der Oberhexe zu
zucken begannen, was nie ein gutes Zeichen ist, setzte sie rasch
ein beinahe geflüstertes „ist mir egal“ hinzu.
„Das habe ich befürchtet!“ sagte
die Oberhexe mehr zu sich selbst und schickte Nihila wieder nach
Hause.
Im Hexendorf versammelten sich die
mächtigsten Hexen des Zauberwaldes und berieten was zu tun sei.
Sie waren sich alle einig, dass Nihilas Vergesslichkeit ein
großes Unheil war, doch was man dagegen tun könnte wusste
niemand.
Eine der ältesten Nebelhexen meinte
sogar, man müsste Nihila verjagen, um das Dorf vor weiterem
Unglück zu schützen, aber die Alte war dafür bekannt, dass sie
„verjagen“ als Allheilmittel betrachtete und so wurde dieser
Vorschlag abgelehnt.
Für Nihila wurde das Zusammenleben mit
den anderen Hexen immer schwieriger. Natürlich bemerkte sie auch
wie gespannt alle darauf warteten, ob sie sich für oder gegen
etwas entscheiden konnte. Doch je mehr sie sich bemühte, desto
schwieriger wurde es, denn sobald sie auch nur „ich will“ -
dachte, waren ihre Gedanken auch schon wieder verschwunden.
Nihila sagte nicht mehr „ich weiß
nicht!“ und schon gar nicht „Ich weiß nicht mehr!“. Sie
hatte sich angewöhnt Fragen mit einem Schulterzucken und dem Wort
„egal“ zu beantworten, doch das änderte nichts, weder für
die anderen Hexen noch für sie selbst.
Nachdem man sich mit der Zeit sogar an
das Schlimmste ein bisschen gewöhnen kann, legte sich auch die
Aufregung im Hexendorf. Alle wussten, dass Nihila keine Antwort
geben konnte sondern lediglich mit den Schultern zuckte und „egal“
oder „weiß nicht“ flüsterte. Und Nihila hörte gar nicht
mehr zu, was sie gefragt wurde sondern hob wie automatisch die
Schultern und es schien ihr als würden auch die dazugehörigen
Worte von selbst aus ihrem Mund kommen.
Eines Tages, als sie im Morgengrauen
müde in ihrer Hängematte schaukelte und dabei den Blick auf die
Öffnung des Rauchfangs gerichtet hielt, wo das fahle Licht des
anbrechenden Tages hereinschimmerte, dachte sie „Es ist so als
wäre ich hier und gleichzeitig ganz weit weg!“ Und dieser
Gedanke, ganz weit weg zu sein, war seit langer Zeit der erste,
den sie nicht wieder verlor und auch nicht vergaß. Er war da als
sie aufwachte, als sie wieder schlafen ging und danach jeden
folgenden Tag. Als Hexe wusste sie, dass das etwas zu bedeuten hat
und so beschloss sie diesem Gedanken zu folgen.
Nihila packte einige Dinge zusammen und
machte sich auf den Weg. Sie wusste ja nicht wohin sie wollte und
so ging sie einfach frisch drauflos, hielt sich einmal dem Bach
entlang , folgte kurz darauf den noch deutlich erkennbaren Spuren
eines Tieres und lief wenig später in einem wirren Zick-Zack und
Schlangenmuster durch den Wald.
Wenn sie müde war schlief sie in hohlen
Bäumen, oder machte es sich im Geäst eines Baumriesen gemütlich
und manchmal fand sie auch eine verlassene Hütte, in der sie
übernachten konnte.
Eines Tages kam sie auf eine Lichtung,
die ihr besonders gut gefiel. Dicht am Waldrand war ein aus
biegsamen Ästen und Zweigen gebauter Unterschlupf, der
offensichtlich nicht bewohnt war und rundherum, soweit das Auge
reichte, leuchteten reife Beeren aus dem Dickicht des Unterholzes.
Hier wollte sie bleiben, zumindest für einige Zeit. Und so blieb
sie, nicht nur kurz sondern so lange, dass sie sich nach und nach
gar nicht mehr erinnerte, wann und warum sie hierher gekommen war.
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