Die
Hexe Zittergras
von Heide
Rohringer
Es war einmal eine kleine Hexe. Sie war in vielerlei Hinsicht
ganz anders als die anderen Hexen des Zauberwaldes. Ihre größte
Besonderheit bestand darin, dass sie sich fürchten konnte, oder
besser gesagt vor vielem fürchten musste, und das kommt bei Hexen
sonst nur selten vor.
Natürlich fürchten sich Hexen vor der Oberhexe, wenn sie zornig
ihren Besen schwingt und unfolgsame Hexen bestraft, sie fürchten
sich auch davor in den Fluss zu fallen und sauber zu werden oder
nicht rechtzeitig vor Sonnenaufgang nach Hause zu kommen und vom
Sonnenlicht beschienen zu werden.
Aber so lange man denken kann, hat sich noch keine Hexe vor
Donnergrollen oder dem Lärm der Hexentänze gefürchtet.
Die kleine Hexe bemühte sich sehr keine Angst zu haben oder
diese wenigstens nicht zu zeigen, denn die anderen Hexen lachten sie
deshalb aus und spielten ihr deshalb auch oft böse Streiche. Doch
so sehr sie sich auch bemühte, sie konnte nichts dagegen tun. Sie
hatte Angst. Deshalb hatte sie schon vor langer Zeit den Namen „Hexe
Zittergras" erhalten.
Ihr Haus lag am Rand des Zauberwaldes, auf der Kuppe eines
Hügels, zwischen Büschen und Bäumen versteckt. Sie lebte allein,
denn mit einer Hexe, die sich fürchtet, wollte niemand etwas zu tun
haben. Tagsüber lag sie wie alle Hexen in ihrer Hängematte und
schlief. Weil sie aber sogar im Schlaf anders war, träumte sie
dabei, obwohl das bei Hexen sonst nicht üblich ist. Im Traum
erlebte sie die wunderlichsten Abenteuer und begegnete seltsamen
Wesen und Dingen. Aber anders als im wirklichen Hexenleben
erschreckte sie nichts und niemand, sodass sie sich im Traum nie
fürchten musste.
Im Gegenteil, wenn sie munter wurde, fühlte sie sich meist
leicht und unbeschwert, manchmal sogar fröhlich, was sich für eine
Hexe natürlich überhaupt nicht gehört.
Vogelgezwitscher weckte Zittergras und erinnerte sie jeden Tag
daran, dass es Zeit war aufzustehen. Im abendlichen Dämmerlicht
sammelte sie Beeren, Kräuter und andere Früchte, die sie gerne
aß. Dabei entdeckte sie oft Ameisenhaufen, das eifrige Hin- und
Herlaufen der kleinen Tiere gefiel ihr und oft blieb sie lange davor
hocken schaute dem buntem Treiben oft lange zu. Überhaupt gab es
auf ihrem Hügel immer viel Neues und Interessantes zu entdecken.
Nachdem sich die nächtliche Dunkelheit ganz ausgebreitet hatte,
saß sie meist auf ihrem Lieblingsplatz, vor dem Haus, auf einem
Stück Felsen, von dem niemand wusste, wie er auf diesen sanften
Hügel gekommen war. Von diesem Platz aus sah sie die Lichter der
nahem Stadt, die wie Glühwürmchen zu ihr herauf leuchteten.
Manchmal überkam sie dabei eine unvorstellbare Sehnsucht, obwohl
sie nicht wusste wonach.
In den Nächten kurz vor Vollmond konnte sie aber auch an ihrem
Lieblingsplatz keine Ruhe finden, denn in den Vollmondnächten
fanden die großen Hexentreffen statt. Und vor diesen fürchtete sie
sich am meisten. Da wurde um den großen Scheiterhaufen getanzt,
gestampft und gekreischt, da zeigten Hexen ihre neuesten
Hexenkünste und verwandelten sich in schaurige Wesen und brauten
stinkende und schleimige Zaubertränke. Am fürchterlichsten war
für die kleine Hexe „Fratzenschneiden", das Lieblingsspiel
der Oberhexe. Im Schein des Feuers und Licht des Mondes veränderten
sich die bekannten Gesichter zu unheimlichen Fratzen, deren Schatten
die ganze Lichtung erfüllten.
Immer wieder hatte sie versucht sich unbemerkt davonzuschleichen
oder eine Ausrede zu finden um nicht dabei sein zu müssen, doch
irgendeine der anderen Hexen hatte sie immer wieder zurückgebracht
und nicht nur das, sie lachten und kreischten vor Vergnügen, wenn
sie von der Oberhexe für ihre Angst bestraft wurde. Die Strafe
bestand meist darin, dass Zittergras von der Oberhexe „festgehext"
wurde, denn das erschien dieser das beste Mittel, sie von ihrer
Angst zu befreien.
Dazu musste sie sich nahe an den Scheiterhaufen stellen, genau
dorthin, wo die Schatten der Fratzen und das Getöse am größten
waren. Ein Zauberspruch der Oberhexe machte sie unbeweglich, sodass
sie sich weder abwenden, noch die Augen schließen konnte.„Wir
werden dir schon abgewöhnen, dich immer zu fürchten!",
kreischten die anderen und schnitten besonders grimmige Gesichter
und machten noch größeren Lärm. Erst mit Beginn des Morgengrauens
löste sich der Bann und Zittergras konnte nach Hause laufen, denn
natürlich hatte sie auch vor dem Fliegen große Angst und ging
deshalb lieber zu Fuß.
In den Tagen, die solchen Hexentreffen folgten, konnte Zittergras
kaum schlafen, so verstört und aufgeregt war sie. Manchmal
erschienen ihr sogar im Traum die hämisch lachenden und spottenden
anderen Hexen, sodass sie schwitzend und zitternd aus ihrer
Hängematte fiel und sich einige Zeit gar nicht mehr aus ihrem Haus
traute.
Wieder einmal war es soweit. Der immer runder werdende Mond
kündigte das nächste Hexentreffen bereits an. Zittergras saß auf
ihrem Lieblingsplatz und überlegte, wo sie sich verstecken könnte,
damit sie nicht hingehen müsste. Doch es fiel ihr nichts ein. |